Lichtenbergs Musik

„Was glaubst du denn?“ antwortete sie, die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger haltend. „Ich bin Berufsmusiker, you know? Da reicht ein bisschen Getriller nicht. Ich hab das studiert, o.k.?“ Kurz darauf führte sie den glimmenden Rest zum Mund und zog noch einmal, bis die Glut ihre Finger erreichte, dann schnippte sie den winzigen Rest auf die Straße. „Hopp, gehen wir rein, keine Zeit verlieren.“


„Ich hab mir eure Sachen angehört“ ließ sie uns wissen, „Ihr braucht mich.“ Wir schauten alle etwas verwundert, nur dieser Uwe zeigte ein breites Grinsen, als sie uns weiter belehrte: „Im Prinzip macht ihr ja hübsche Sachen, aber viel zu viele Fehler. Nein! Keine falschen Töne, aber die Arrangements, zu viele Wechsel, zu viele Töne......“ Sie ließ ihren Kopf regelrecht fallen, um weiter zu verkünden: „Ich werde als Profi aus euren Ideen großartiges formen. Jetzt spielt mal“

„Nun, was sollen wir spielen?“ fragte ich etwas verzweifelt. „Egal irgend was von dem Zeug, spielt keine Rolle.“

Ich wählte also eines jener Stücke, für die bereits ein Text existierte, welches jedoch in Ermangelung einer Stimme bisher lediglich als Instrumentalstück gespielt wurde. Nach wenigen Takten unterbrach sie lautstark: „Stoppstoppstoppstopp! Was war das jetzt? Das muss anders werden.“ „Inwiefern?“ erkundigte sich Harrie. „Nun das ist doch kein Übergang.“ Stefan erklärte: „Wir machen den letzten Schlag auf 6, dann kommt die Pause und Heiko hat einen Auftakt, beginnt also auf 6 und dann kommen wir wieder alle auf die 1.“ Uwe schaute finster und Ruths Stimme lief grün an: „Das ist nicht schlüssig, das hört sich nach nichts an.“ „Wieso?“ fragte ich, und Heiko ergänzte: „Also ich würde es so lassen, die Pause klingt perfekt!“ „Neinneinneinnein“ erwiderte Ruth: „Es gibt Regeln! Ihr müsst euch an Regeln halten! Nicht einfach drauf los! Regeln, wie im Fußball, stell dir vor da spielt jeder was er will – dann weiß niemand wer gewonnen hat.“ „Wir spielen ja nicht gegen einander.“ bemerkte Heiko mit leichtem Spott in der Stimme und meinte: „Das ist doch vollkommen korrekt gezählt. Ich weiß nicht gegen welche Regeln das verstößt.“ „Es interessiert doch niemand, was du da zählst, so was macht man einfach nicht, hast du so was mal gehört, zum Beispiel bei Bon Jovi oder Springsteen oder Cocker oder Elton John oder.....“ „Nun das ist ja alles ziemlich nah am Mainstream“ unterbrach ich vorsichtig, „Wir waren uns ja am Telefon einig, dass wir uns nicht auf ausgetretenen Pfaden bewegen wollen.“ Sie schien erregt: „Aber die Regeln müssen wir doch akzeptieren, wenn du ein C-Dur Akkord spielst passt eben kein Fis rein.“ „Das erkläre mal John Cage“ bemerkte Stefan leise aber unüberhörbar. „Das ist ein Terrorist, kein Musiker!“ rief sie und zauberte dem schweigenden Uwe damit wieder ein Lächeln auf das Gesicht.

„Aber wir halten uns doch an die Tonart“ erklärte ich, „und gezählt ist es präzise!“ „Das ist doch gar nicht die Frage“ wandte sie ein, „aber es gibt Regeln! Schau, wie sich der Spannungsbogen entwickelt, und da! Nichts, Pause! Das versteht das Publikum nicht!“ „Aber ich verstehe es“ sagte Heiko, der ansonsten gerade nicht viel zu verstehen schien.

Um die offensichtlichen Spannungen zu beruhigen schlug ich vor, sie solle doch jetzt mal dazu singen. Das Intro mit der umstrittenen Pause könnten wir ja weg lassen.

„Kann ich nicht – heiser.“ Antwortete sie mit erstaunlich klarer Stimme.

„O.k. dann was instrumentales.“ warf Stefan in die Runde und fragte ob das Cello einen Tonabnehmer habe, was sie mit einem fast beleidigt klingenden „natürlich nicht“ beantwortete, ganz so als verstießen Tonabnehmer gegen eine uns bislang nicht bekannte Regel.

Ich war gerade dabei ein Mikrofon anzuschließen, sie hantierte an ihrer Cellotasche, als ich ihre Stimme vernahm: „Vergiss es, vergiss es, vergiss es, ich habe keinen Bogen dabei.“ Nun war also auch dieser Versuch gescheitert. Erneut kramte sie ihren Tabak heraus und stellte sich eine weitere Zigarette her.

Sie nahm beim hinausgehen ihre Tasche gleich mit und verfrachtete sie in den Kombi.

Uwe setzte sich wortlos ans Steuer, sie kam zu uns und erklärte: „Ihr müsst einfach machen, was ich sage. Eure Ideen sind gut, aber ihr beachtet die Regeln nicht. Ihr braucht mich. Das wird großartig, ich gebe euch mein Wort, als Profi, seid mir nicht böse – ich muss, habe morgen einen Auftritt, auf den ich mich vorbereiten muss. Macht´s gut, bis nächsten Sonntag.“

Schweigend kehrten wir in den Raum zurück, nahmen unsere Instrumente und genossen die Regelverstöße.

Von Ruth haben wir nie mehr etwas gehört.

Eigentlich hatte niemand mehr mit ihr gerechnet, so waren wir verwundert, als sich die Tür zum Proberaum öffnete und sie mit ihrer großen Tasche die kleine Treppe herunter polterte.

„Ruth, die Sängerin“ rief sie sich vorstellend. Hinter ihr folgte ein beleibter Herr und erklärte: „Ich bin der Uwe, das Management“.

Zweifelsfrei befand sich in der Tasche ein Cello, welch Überraschung, davon war am Telefon nicht die Rede, aber ein Cello, das ist interessant.

Wir schüttelten die Hände, ich fragte, ob sie denn ein Mikrofon dabei habe, was sie mit dem Hinweis verneinte nun zuerst einmal rauchen zu wollen, in Uwes Karre darf sie ja nicht, was ihr die, aufgrund seines extrem langsamen Fahrstils ohnehin beschwerliche Fahrt zum Horror werden ließ. Dann nahm sie ein Päckchen Tabak heraus, ich dachte alle die dieses Kraut geraucht haben seien längst verstorben, aber so täuscht man sich. Mit geschickten Fingern formte sie eine Zigarette von erstaunlicher Dicke.

„Schön, dass du ein Instrument spielst“ bemerkte ich, als wir vor unserem Proberaum standen, „hattest du am Telefon ja gar nicht gesagt.“